Ethische Marktwirtschaft Chance oder Utopie

Eine recht junge Bewegung macht auf sich aufmerksam. Die Gemeinwohl-Ökonomie fordert eine Abkehr von Gewinn, Wachstum und Vermögens- und Besitzanhäufung. Stattdessen soll es um Nachhaltigkeit,  Kooperation und Gemeinwohl gehen. Auch im echten Norden gewinnt die Gemeinwohl-Ökonomie  zunehmende Beachtung. Vor mehr als zehn Jahren verdichtete sich etwas, das schon seit langem an Kritik an der Schneller-Höher-Weiter-Wirtschaft brodelte zu einer Bewegung. Der österreichische Publizist Christian Felber gründete zusammen mit 15 Unternehmerinnen und Unternehmern 2010 die GemeinwohlÖkonomie, kurz GWÖ. 

Gemeinwohl statt Gewinn

Die GWÖ beschreibt eine alternative Wirtschaftsordnung zu den etablierten gewinnorientierten  Wirtschaftsformen. Sie versteht sich als liberale und ethische Marktwirtschaft, die nicht auf Gewinn und Wettbewerb beruht, sondern auf Gemeinwohl, Kooperation und Nachhaltigkeit. Erfolgskriterium ist dabei nicht primär der finanzielle Gewinn, sondern der Beitrag, den ein Unternehmen, eine Gemeinde oder Organisation zum Gemeinwohl leistet. Doch dazu braucht es handfeste und messbare Kriterien.

Wie misst man Gemeinwohl?

Laut dem GWÖ-Modell lässt sich Gemeinwohl jedoch durchaus messen: Im Rahmen der Gemeinwohl- Bilanz. Sie umfasst 20 Gemeinwohl-Themen, anhand derer die Beiträge zum Gemeinwohl durch ein  Punktesystem sichtbar gemacht werden. Jedes Unternehmen oder Organisation kann maximal 1.000 Gemeinwohl-Punkte erreichen. Der Vorteil: Das Ergebnis eines Corporate Social Responsibility-Standards wird so über alle Branchen, Rechtsformen und Unternehmensgrößen vergleichbar. Ziel der Gemeinwohl-Ökonomie ist es, den Beitrag zum Gemeinwohl auf allen Produkten sichtbar zu machen. So soll ein Anreizinstrument geschaffen werden, mit dem der gegenwärtige Kosten- und Wettbewerbsnachteil ethischer Unternehmen in einen Vorteil umgewandelt werden soll. Weltweit sind etwa 600 Unternehmen  und andere Organisationen bilanziert.  Auch in Deutschland entdecken immer mehr Städte und Kommunen die GWÖ für sich, binden ihre Prinzipien in ihr tägliches Handeln ein. Stuttgart, Mannheim und der Stadtrat von Münster sind dabei. Letzterer beschloss, für alle Kommunalbetriebe eine Gemeinwohl-Bilanz zu  erstellen. Die erste Gemeinwohl-Region soll Höxter in Ostwestfalen werden.

Gemeinwohlökonomie im echten Norden

In Schleswig-Holstein hat die Gemeinwohl-Ökonomie Fuß gefasst. In der Regionalgruppe Schleswig- Holstein Nord gibt es bereits eine Reihe von bilanzierten Unternehmen und Institutionen sowie die  friesischen Gemeinden Klixbüll, Breklum und Bordelum. Sie gehören zu den deutschen Vorreitern in Sachen ethische Wirtschaft. Und auch an den Hochschulen stößt die GWÖ auf Interesse: In Kiel und Flensburg ging man der GWÖ in dem Forschungsprojekt „Gemeinwohl-Ökonomie im Vergleich unternehmerischer  Nachhaltigkeitsstrategien (GIVUN)“ auf den Grund.

© Nikolas Linke/Oceanbasis GmbH

OCEANBASIS: Forschen und Wirtschaften für Mensch und Natur

In Kiel ist das Unternehmen Oceanbasis von der GWÖ überzeugt. Im Mittelpunkt steht nicht die  Gewinnmaximierung, sondern Naturschutz, Gemeinwohl, Menschenwürde. Ganz neu ist das bei diesem  Unternehmen, das unter anderem für seine Kosmetikmarke Oceanwell bekannt ist, nicht. Gegründet von zwei Meeresbiologen und einem Maschinenbauer im Jahr 2001 stellt das Unternehmen mit Sitz in Holtenau direkt an der Kieler Förde Naturkosmetik und andere Produkte aus dem Meer her, basierend auf eigener Forschung in Kooperation mit dem Schwesterunternehmen CRM und von Anfang an mit einem hohen Stellenwert für Nachhaltigkeit. „Das Thema GWÖ wurde bei uns im Jahr 2019 durch Anregung einer Mitarbeiterin aktuell“, erzählt Mitgründer und Geschäftsführer Christian Koch. Es gab eine große Mehrheit in der Firma für die Idee, eine GWÖ-Bilanz zu erstellen. Im Januar 2021 begann man mit der ersten GWÖ-Bilanz. Denn: „Der zugrunde liegende Wertekanon von Oceanbasis und CRM ist in großen Teilen mit dem der GWÖ identisch.“ Die Bilanzierung stellt für Koch und das Unternehmen ein gutes Instrument zur  Erfolgsmessung dar. „Es werden nicht nur Umsatz, Gewinn und andere herkömmliche Parameter  gemessen, sondern die im GWÖ-Bericht definierten Verbesserungen hinsichtlich der Umsetzung unserer Wertvorstellungen.“ 

© Oliver Staack

Über die bereits gelebten Werte hinaus seien diese nun plastischer und erfahrbarer geworden. Das  Gemeinwohl sei stärker in den Mittelpunkt des Handelns gerückt – und die bereits hohe Identifikation und  Zufriedenheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch weiter gestiegen. „In Bezug auf die Menschen im Unternehmen prägt unsere Unternehmenskultur, dass Arbeitszeit gleich Lebenszeit ist – und daher so  erfüllend wie möglich sein sollte. Sinnstiftung, Lohngerechtigkeit und Mitbestimmung bilden auch zentrale Aspekte im Rahmen der GWÖ-Bilanzierung.“ Die Bilanzierung hat das Unternehmen gerade erst  abgeschlossen. Aber bereits jetzt geht es an die aus dem GWÖ-Bericht hervorgegangenen Maßnahmen,  wie etwa die Einrichtung von Teams zu den Themen Kommunikation und Entscheidungsfindung,  Unternehmenskultur und Wissensmanagement. Natürlich kostet die Bilanzierung und die Arbeit an der  Unternehmenskultur Zeit. Doch hierin sieht Koch keinen Nachteil. Die interne Kommunikation sei zwar eine Herausforderung, denn Transparenz und Partizipation erfordere von allen ein Lernen, „das vermutlich und hoffentlich niemals aufhören wird. Aber in unserer Unternehmenskultur werden Herausforderungen auch eher als Chance und nicht als Nachteil gesehen.“

Ob die Idee der GWÖ ein alternatives, problemlösendes und umsetzbares Wirtschaftssystem ist oder nur Marketing ist, bleibt fraglich. Der Wunsch nach mehr Kooperation, Vertrauen und Solidarität scheint allerdings bei immer mehr Unternehmen in den Fokus zu geraten. 

Intrinsische Motivation für das Gemeinwohl

Lisa Buddemeier ist Psychologin, Organisationsberaterin und Dozentin – und Organisatorin der GWÖ- Regionalgruppe Kiel. Sie schätzt den werteorientierten und ganzheitlichen Ansatz der GWÖ. „Es braucht  dringend eine Alternative zum aktuell weltweit dominierenden Wirtschaftssystem der kapitalistischen Marktwirtschaft“, sagt Buddemeier, „denn diese hat uns global betrachtet in eine sehr kritische Lage  gebracht.“ Klimakrise, Umweltzerstörung und soziale Ungleichheit seien nur drei der damit verbundenen  Probleme. Die GWÖ, die sich neben einigen anderen Ansätzen wie Donut-Ökonomie, Post-Wachstums-Ökonomie oder dem lateinamerikanischen Buen Vivir diesen Problemen stellt, bietet aus ihrer Sicht viele  Chancen. Sie sei eine Bewegung zum Mitmachen, biete konkrete Managementinstrumente und  überzeugende Konzepte und sei von intrinsisch motivierten Menschen getragen. Die intrinsische Motivation – also die Motivation von innen heraus -, die Ehrlichkeit, sich kritisch mit sich selbst auseinanderzusetzen, sei die wichtigste Voraussetzung für ein Unternehmen, das über gemeinwohlorientierte Veränderungen nachdenkt. Und die größte Hürde. Wer diese allerdings genommen hat, profitiert. „Bislang haben mir alle Unternehmerinnen und Unternehmer zurückgemeldet, dass sie in der Beschäftigung mit dem Thema viel gelernt, blinde Flecken entdeckt und wichtige Impulse zur Weiterentwicklung des Unternehmens  mitgenommen haben.“ Die Bilanzierung steigere zudem die Arbeitgeberattraktivität. „Teilnehmende  Unternehmen berichten, dass sie deutlich mehr und interessante Bewerbungen erhalten.“ Positive Effekte habe die GWÖ-Ausrichtung auch in Richtung der Kundschaft und Partnerschaften. So würden die Sparda-Bank München und die BKK ProVita Mitgliederzuwächse seit der Bilanzierung verzeichnen, so Buddemeier.

Doch wann ist die Wirtschaft gemeinwohlorientiert genug?

„Wenn die Bewegung nicht mehr gebraucht wird, weil sich gemeinwohl-orientiertes Handeln in der  Wirtschaft als neue Norm etabliert hat“, meint Lisa Buddemeier. Idealerweise mit einer Verpflichtung zur Gemeinwohl-Bilanz für Unternehmen. Geeignete regulatorische Rahmenbedingungen, etwa niedrigere Steuern für Gemeinwohl-Unternehmen würden es attraktiv machen, gemeinwohl-orientiert zu wirtschaften und könnten als Anreiz dienen. Und: „Wenn es global betrachtet gelingt, die Grundbedürfnisse aller Menschen zu erfüllen und gleichzeitig die planetaren Grenzen und die Regenerationsfähigkeit unseres Planeten zu achten.“ Immer mehr Stimmen werden laut, die nach einer Veränderung bestehender  wirtschaftlicher Praktiken rufen und zu mehr Umweltschutz und gerechterer Ressourcenverteilung mahnen. Die Gemeinwohl-Ökonomie ist eine der populärsten. Und schnell wachsenden. Im echten Norden hat sie Fuß gefasst und gewinnt immer mehr Anhängerinnen und Anhänger. Ob ein und welches Modell sich tatsächlich durchsetzt, ist kaum voraussagbar. Fest steht, dass die Welt sich in Aufbruchstimmung befindet. Und Veränderungen, wie auch immer geartet, stehen bevor.

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